Störenfried an Weihnachten . . . Wie "Im Tal des Todes"
Von Stefan Weinert
Es war in meiner Jugendzeit Ende der 1960er Jahre und ich gehörte, wie auch meine Eltern und meine vier Geschwister zur Katholischen Kirche. Und dass, obwohl Schleswig (woher ich stamme) eine katholische Diaspora war und immer noch ist. Es war der 2. Weihnachtstag. Am Nachmittag wollten mein Freund Thomas und ich uns den letzten der damals gedrehten Karl May-Filme anschauen: Winnetou und Shatterhand im Tal der Toten. Doch momentan saßen wir beide nicht im Kino, sondern vormittags als immer noch Ministranten in der Kirche mit vielen lebenden Bekannten und Freunden - links neben dem Altar - während Pfarrer Prost die Heilige Messe las.
Dann kam die Predigt. Und obwohl diese wahre Begebenheit nun über 50 Jahre her ist, werde ich diese Ansprache des Pfarrers - einer von der guten Sorte - wohl niemals vergessen. Die begann nämlich so:
"Liebe Gemeinde, (pathetisch) ach wie schön, dass wir wieder einmal das lichtvolle Weihnachtsfest feiern dürfen. Draußen liegt Schnee, die Stuben sind warm, es wartet ein gutes Essen auf uns und wir dürfen die Geburt unseres Erlösers feiern. Doch (tiefer, ernster Tonfall) --- es gibt jemanden, der uns heute diese schöne Weihnachtsfeier kaputt machen will. Ja, dieser Störenfried sitzt hier mitten unter uns. Er sitzt dreister Weise auch noch hier in diesem Altarraum ..." -
Thomas und ich sahen uns erstarrt an. Unser Pfarrer war nicht unbedingt dafür bekannt, dass er während der Heiligen Messe Witze erzählte. Doch zu meiner Erstarrung gesellte sich das Entsetzten, als der Pfarrer mit seiner Predigt fortfuhr, denn alle und auch ich hörten, wie er sagte: "Und diesen Störenfried will ich ganz klar benennen, dieser Störenfried, der uns das Weihnachtsfest kaputt machen will, heißt Stefan ... "
Mir schoss das Blut in den Kopf und dann in die Beine und vergebens suchte ich nach einem "Mauseloch" in dem ich hätte verschwinden können. Zwar gab es diese Redewendung damals so noch nicht, aber ich befand mich definitiv im falschen Film. Das alles geschah in nur einem Bruchteil einer Sekunde (1/100), denn der Herr Pfarrer hängte an den "Stefan" noch das lateinische "us" an (Stephanus), und ab der Sekunde 2/100 war klar, er meinte natürlich nicht mich, sondern den, dessen Feiertag wir heute begehen: Stephanus, von dem die Bibel berichtet, er habe sich eher zu Tode steinigen lassen, als von seinem Glauben abzufallen. Und so geschah es denn ja auch.
Und nun "sang" Pfarrer Prost (gehobene Stimme) ein Loblied auf diesen ersten Märtyrer der Christenheit, sprach über seinen Mut und seine Treue. Wenngleich er nicht mich meinte, tat mir das doch wohl, wie Balsam auf meinem gerade noch blutenden Herzen. Damals Ende der 1960er Jahre und in der Ursprache der Apostelgeschichte war das Wort Märtyrer längst nicht so negativ konnotiert wie in den späteren Jahren des 20. Jahrhunderts bis heute, sondern wurde noch eher im ursprünglichen Verständnis gebraucht. Denn in der biblischen Sprache von vor 2.000 Jahren (und noch heute) hat das Wort "mártys" die Bedeutung von "Zeuge" (vor Gericht), "martyrion" ist demnach die "Zeugenaussage". Und wie wichtig die ist, weiß jeder, der mal als Angeklagter vor Gericht stand.
Und dennoch, so fragte der Pfarrer Prost damals und fragen sich die Menschen bis heute, muss dieser "blutige Tag" ausgerechnet gleich nach dem Weihnachtstag begangen werden. Hätte man den nicht irgendwie in die "Fastenzeit" zwischen Aschermittwoch und Karfreitag verorten können!?
Ne, sagte der Herr Pfarrer. Er - Stephanus" (stephanos = der Gekrönte) soll uns daran gemahnen, dass der Weg jenes kleinen Kindes in der Krippe, das gerade geboren wurde, bis zum Ende kein einfacher Weg sein würde. Dornenkrone statt goldener Krone mit Diamanten.
Wie gesagt, jene Predigt, die mich für einen kurzen Moment wie "im Tal des Todes" fühlen ließ, habe ich nicht vergessen. Und auch meine Freund Thomas kann sich noch heute daran erinnern. Aber es stimmt. Wer es mit den christlichen und/oder humanistischen Werten ernst nimmt, sei er nun offiziell von unserer Gesellschaft als "Christ" eingestuft oder auch nicht, der hat unter Umständen nichts zu lachen. Ich denke an Mahatma Gandhi, der kein "Christ" war; ich denke an den Baptistenpastor Marin Luther King; ich denke an Nelson Mandela (auch kein Christ), ich denke an den Theologen Jan Hus, den die Katholische Kirche 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Hus war ein Mann von ebenso großer Gelehrsamkeit wie Rhetorik und predigte seit 1402 in der Prager Bethlehemkapelle. Zentraler Punkt seiner Lehre war die Abschaffung der seit fast 1400 Jahren tradierten Papstwürde. Ihre Autorität sei überflüssig, denn „nicht der Papst kann Sünden vergeben, sondern Gott allein“.
Übrigens: Ab Beginn der 1960er Jahre gab es in meiner Stadt Schleswig einen evangelischen Pfarrer Namens "Neujahr". Mit seinem Sohn (Keyboard) spielte ich (Drummer) später zusammen in einer Rockband, die es heute noch gibt - und in der Freund Thomas immer noch der Sänger ist. Wenn sich also unser Pfarrer und der aus dem anderen Lager trafen, sich die Hand gaben und einander vorstellten, dann hörte sich das so an: "Prost" --- "Neujahr".