Tauben sind keine Raubtiere, sondern Symbol für Frieden und Sanftmut. Aber sie werden zu Räubern, wenn wir falsch mit ihnen umgehen. - Ein Rückblick mit Aussicht . . .
Stefan Weinert
Meinen ersten "Leserbrief" in der hiesigen Presse, der "Schwäbischen Zeitung", schrieb ich vor über 31 Jahren, im September 1992. Drei Jahre zuvor war ich mit meiner Familie von Sonthofen/Oberallgäu (Bayern) nach Ravensburg übergesiedelt. Wegen der Arbeit und so. Ich kann mich sogar sehr gut an jenen Tag im Indianersommer 1992 erinnern. Den damaligen kleinen Leberkäs'-Wecken-Laden neben der Apotheke Vetter gibt es schon lange nicht mehr, und der Schadbrunnen war noch nicht installiert. Den Leserbrief hatte ich mit der Hand geschrieben, denn den ersten PC kauften wir uns erst zwei Jahre später. Ein Pentium II. Was ein Blogger ist und welches "Unwesen" ein solcher treiben kann, wusste weder ich noch die ganze Welt.
Aber das städtische Taubenproblem - das gab es schon damals und das gab es auch in Ravensburg. Wenngleich in den vergangenen drei Dekaden da viel passiert ist.
Screenshot vom 11. Januar 2024 (Archiv SZ)
Als ich mir nun heute diesen Leserbrief durchgelesen hatte, fiel mir die folgende Passage als Brücke zur heutigen Zeit auf.
"Tauben sind keine Raubtiere, sondern Symbol für Frieden und Sanftmut. Aber sie werden zu Stadträubern, wenn wir falsch mit ihnen umgehen."
Zugegeben, damals hatte dieser Passus nicht die Bedeutung, die er heute vor allem im metaphorischen Sinne hat. 1992 war Deutschland dem Kalten Krieg entronnen und seit gut zwei Jahren wieder vereint. Dank Gorbi und seinem Versprechen. Dass im Hintergrund aber bereits die USA und NATO anderes im Sinn hatten, und dass ab 2000 Waldimir Putin mehr und mehr kochte und warnte, war weder mir noch den meisten Bürger/innen bewusst. In Israel gründete sich in jenem Jahr die Friedensbewegung "Gusch Schalom", deren Hauptziel es war und ist, die israelische öffentliche Meinung in Richtung Frieden und Versöhnung mit den Palästinensern zu führen. Und im September 1992 schlägt der israelische Ministerpräsident Rabin eine Konföderation zwischen Israel, den Palästinensern und Jordanien vor.
Doch die Zeiten haben sich geändert - und wie!! Deshalb muss ich meine eigene Aussage unbedingt im übertragenen Sinne weiterdenken.
Ok, lieber Bürger W. - Dennoch, zwar gut gesprochen und geschrieben. Aber wie sieht's denn aus mit dem "Frieden" und mit der "Sanftmut" durch dein persönliches Leben? Was unter "Frieden" zu verstehen ist, ist ja allgemein bekannt. Aber was genau ist Sanftmut? Das altgriechische Wort umschreibt dieses Attribut so ungefähr mit "milde und geduldig sein im Umgang mit dem/der anderen, trotz aller Widrigkeiten und seiner 'Widerwärtigkeiten'".
Das Problem ist - so behaupte ich es mal, und weiß mich da auch von professioneller Seite bestätigt - dass Dinge wie Liebe, Geduld, Nachsicht, Versöhnung, Friede und Sanftmut uns Menschen generell nicht im Blut liegen und auch nicht als unbedingt "alltagstauglich" gelten, sondern man/frau sich täglich für diese Dinge entscheiden und sie kultivieren muss. Und dann gibt es ja da auch noch die Temperamente, die uns durch die Gene mitgegeben sind. Einem Sanguiniker oder Phlegmatiker wird die Ausübung solcher Attribute charakterlich leichter fallen, als einem Choleriker und Streithammel. Aber es funktioniert, wenn er denn will.
Nur leider lebt keiner von uns allein an der Schussen. Da gibt es noch den und die andere und die Anderen, die uns provozieren, ärgern, auf den Geist gehen, langweilen, oberflächlich daherkommen, und uns gar übervorteilen wollen - uns eben nicht "liegen". Und ganz gewiss ist es auch so, dass wir den anderen mit unserer Art gehörig auf die Nerven und den Sender gehen - um es noch diplomatisch und anständig zum Ausdruck zu bringen.
Nun bin ich kein Philosoph, wie Immanuel Kant es einst war, sondern eher der kantige Typ, an dem man/frau sich leicht stoßen und verletzen (?) kann. Aber dennoch ist der Satz mit den von uns Menschen falsch behandelten Tauben so schlecht auch nicht. Er könnte für unserer Miteinander in der "Stadt der Türme" gelten, für den Umgang der Mächtigen mit den "Treckerfahrern", und für die großen Konflikte in der Ukraine und Nahost.
Das hebräische und arabische Wort für SHALOM bzw. SALAM (sie haben dieselbe Wurzel "slm", da beide semitische Sprachen sind!) bedeutet, "wohnen und leben in gesicherten Grenzen".
Wenn die Menschen im alltäglichen Leben die Grenzen des/der anderen nicht nur nicht überschreiten, sondern sie zuerst ihnen einmal auch zugestehen und gewähren, dann wäre das schon ein Riesenschritt. Der aber fällt uns leider nicht - wie auch die gebratenen Tauben - in den Mund respektive in den Sinn. Der muss - so sehe ich das - im inneren Kampf des kleinen David gegen den großen (E)goliath gegen sich selbst errungen werden.
Ich habe lange keinen "Leserbrief" mehr geschrieben . . .