Die symbolische Kraft der pro-aktiven Wahlverweigerung
Zum ersten Mal veröffentlicht hier am 20. Oktober 2023. Der Artikel wurde jetzt überarbeitet, ergänzt und aktualisiert.
3. Jänner 2024
Liebe Mitbürger/innen in Stadt und Kreis Ravensburg,
Als ich vor fünf Jahren eine Petition ins Netz stellte, in der die Mitbürger/innen aufgerufen wurden, sich in Zukunft bei Wahlen proaktiv zu enthalten und dem Vorbild des aus Frankreich stammenden „Vote blanc“ zu folgen, gab es zwar rund 250 Unterschriften für diese Idee, aber es hagelte auch Schläge und Unverständnis gegen mich.
Bei der Präsidentschaftswahl 2017 zwischen dem sozialliberalen Emmanuel Macron und der rechtsnationalen Marine Le Pen haben mit 4,2 Millionen so viele Franzosen wie noch nie eine Stimme abgegeben, die nicht zählte. Dabei werden zwei Formen unterschieden. Es gibt die ungültige Stimme (Vote nul), wenn der Wähler den Stimmzettel stark beschädigt oder unkenntlich macht. Und es gibt die sogenannte weiße Stimme (Vote blanc). Hier gibt der Bürger einen weißen Zettel ab oder einen leeren Umschlag. Die "Vote blanc" hat seit 2014 Verfassungsrang in Frankreich *). Diese Stimmen wirken sich aber nicht auf das offizielle Wahlergebnis aus (aber auf die Wahlbeteiligung, was nicht zu verachten ist.
Doch vor unserer Tür warten heuer die Kommunalwahlen 2024 - und ehrlich gesagt, kann ich - nach genauer und rückblickender Betrachtung - keine der sich aufstellenden Parteien oder Wählergemeinschaften mit einem oder mehreren Kreuzen bedenken.
Stef-Art 2019/23
Denn im Gemeinderat und im Kreistag, in denen Du und ich leben, werden Entscheidungen getroffen oder auch nicht, die mit unserem Bürger-Willen, Bürger-Bedarfen, Bürger-Ängsten und Bürger-Sorgen rein gar nichts zu tun haben. Ein Beispiel aus der Stadt Ravensburg ist die komplett von Stadtverwaltung und Gemeinderat „versaute“ Entscheidung zu den beiden innerstädtischen Parkplätzen bei der Kuppelnau-Grundschule, die ab dem Mai 2023 kostenpflichtig wurden, aber seit diesem Zeitpunkt von nur (nach mehrmaligen eigenen vor Ort-Zählungen) unter zehn Prozent der zu vorigen “Parker/innen“ genutzt werden.
Anstatt zuzugeben, dass hier Murks von den Verantwortlichen verzapft wurde, kommen dieselben nun daher und wollen das Ganze mit zweifelhaften Ideen und Maßnahmen „kitten“. Doch ein schlecht verarbeiteter Tonkrug bleibt es für immer, und wird auch nach Reparatur nur ein paar Tage halten – dann aber tropft es wieder aus ihm hinaus – eben, ein Fass ohne Boden.
Das mit dem „Parken“ aber ist nur ein Beispiel von diversen, und für mich ist die Maß längst übervoll. Es wird "grün" geredet und "schwarz" gehandelt. Immer (!) stehen die Interessen von "Umsatz und Rendite" im Vordergrund.
Das viel Schlimmere geschah auf Kreisebene mit der großmehrheitlichen Zustimmung der Kreisrät/innen, das gut funktionierende Krankenhaus der großen und freien Kurstadt BAD Waldsee zu schließen. Unverzeihlich! Und nicht minder schlimm war das Verhalten jener - von dir und mir gewählten - Mandatsträger/innen, gegenüber dem Herausforderer des bisher und doch dann - ebenso unverzeihlich - wieder gewählten alten Landrats. Unter großer medialer Beachtung und Unterstützung schickten sie mehrheitlich ihren Kandidaten ins Rennen, um ihn dann doch mehrheitlich im Stich zu lassen.
Nee liebe Leute, nicht mit mir!
Wie oft haben Sie liebe Leser/innen, den Satz "Die da 'oben' tun so wie so, was sie wollen", schon gehört bzw. selber ausgesprochen oder gedacht, wenn es um diejenigen Damen und Herren geht, die uns als Politiker/innen in unseren Stadt-, Kreis-, Landes- und Bundesparlament(en) repräsentieren sollen, es aber in der Praxis nachweislich oft und meist nicht tun?! Mehr und mehr Bundesbürgerinnen und Bundesbürger gehen genau deshalb nicht mehr zur Wahlurne, weil sie wahlmüde geworden sind, oder sich aus Protest als Wahlverweigerer zeigen. Manche von uns wählen aus Verzweiflung und/oder auch aus Protest lieber die "Pest", als zu Hause zu bleiben, weil sie ihrer demokratischen Bürgerpflicht nachkommen wollen.
Doch bei der bevorstehenden Kommunalwahl im Juni 2024 zu Hause zu bleiben, respektive keinen Wahlzettel abzugeben, ist für mich auch keine Lösung und Option.
Doch wie wäre es, wenn ich statt dieses ganzen Wahlkatalogs mit sichtbaren Namen und unsichtbaren Versprechen und mit 40 bzw. 80 sinnlosen Kreuzen – einen schlichten weißen völlig unbeschrieben weißen Bogen Papier in den Umschlag stecke und diesen in die Wahlurne werfe! „Vote blanc“ nennt man/frau das in Frankreich und ist auch in Deutschland nicht verboten.
Enthaltungen (die bei politischen öffentlichen Wahlen in Deutschland gar nicht vorgesehen sind, was ich für einen demokratischen Fehler halte), werden nach dem deutschen Wahlrecht als „ungültige Stimmen“ gezählt und auch als solche veröffentlicht und haben einen zählbaren Einfluss auf die Höhe der Wahlbeteiligung.
Weder das zuständige Wahlamt, noch die Stadtverwaltung, noch die hiesige Presse werden verschweigen können, wenn in 300 (oder mehr …) geöffneten Briefumschlägen lediglich ein weißes Stück Papier mit der stummen Botschaft „der Gemeinderat/Kreistag repräsentiert mich nicht“ erscheint.
Auch wenn – wie gesagt - die Möglichkeit einer Stimmenthaltung bei politischen Wahlen in Deutschland auf dem Stimmzettel bisher gesetzlich nicht vorgesehen ist, so widerspricht die Möglichkeit der Stimmenthaltung doch den Vorschriften des Grundgesetzes nicht. Die Gestaltung des Stimmzettels kann allerdings nur vom Gesetzgeber durch Modifikation der bestehenden Vorschriften geändert werden.
In Artikel 20 GG heißt es: "(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt." Und in Artikel 38 (1) GG ist zu lesen: "(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen."
Bei politischen Wahlen kann und soll der Bürger also Einfluss auf die zukünftige Politik nehmen. So jedenfalls die Theorie. Was aber, wenn gewählte Politiker wiederholt und über längere Zeiträume hinweg nicht einhalten, was sie versprochen haben oder gegen ihre Vorsorge- und Fürsorgepflicht verstoßen, was, wenn der Bürger grundsätzlich mit der parlamentarischen Arbeit über Jahrzehnte höchst unzufrieden ist. Was, wenn sich die Mandatsträger/innen in Gemeinderat und Kreistag mehr der jeweiligen Verwaltung verpflichtet fühlen, als dem Bürger, der /die ihn gewählt hat?!
Soll und darf seine, des Wählers, Willensäußerung hier nur darin bestehen, dass er nicht mehr wählen geht, da es ja eine Wahlpflicht in Deutschland nicht gibt (und dann als Wahlmuffel gilt), oder beim kleineren Übel sein Kreuz macht (um seiner Bürgerpflicht zähneknirschend doch nachzukommen), oder seine abgegebene Stimme ungültig macht? Das kann und darf in einer freiheitlichen Demokratie nicht sein und widerspricht auch dem Tenor des Deutschen Grundgesetzes.
Zwar argumentiert der Gesetzgeber, dass durch eine Enthaltung weder ein Wählerwille abgeleitet noch ein/e Repräsentant/in gewählt werden könne. Das aber ist nur die halbe Wahrheit. Denn sehr wohl wird in diesem gesonderten Falle durch die Möglichkeit einer Enthaltung ein klarer und eindeutiger Wählerwille/Meinung deutlich, s. o., während Wahlverweigerung und bisher ungültige Stimmen nach vielen Seiten interpretierbar sind.
Für die Bochumer Organisation unwaehlbar.org ist die Stimmenthaltung daher ein "absolut legitimes demokratisches Bürgerrecht". Sie fordert - ähnlich wie in Frankreich - die Möglichkeit eines "Vote Blanc". - Die Abgabe eines 'ungültigen Stimmzettels' ist zwar eine begrüßenswerte, weil aktive Form der Wahlverweigerung, allerdings rechnet das Wahlsystem auch diese Stimmen zur Wahlteilnahme und damit zur Legitimation des ganzen Prozesses", heißt es auf der Homepage des Bochumer Vereins. Abhilfe würden hier nur zusätzliche Wahlfelder schaffen, mit denen die Wahlberechtigten sich "enthalten" oder klar ausdrücken könnten, dass sie keine der Parteien bzw. Kandidaten wählen wollen. Dass es diese Option nicht gibt, sei ein Skandal. Denn die bisherige Variante, den Stimmzettel "ungültig" zu machen, diskreditiere schon vom Namen her ein solches Wählervotum und werde meist als Unvermögen abgetan, den amtlichen Wahlzettel Vorschrift gemäß zu gebrauchen.
Ich verspreche mir bei er proaktiven „Stimmenthaltung“ wie oben beschrieben, bei der bevorstehenden Kommunalwahl aber auch grundsätzlich bei allen politischen Wahlen
a) eine wesentlich höhere Wahlbeteiligung
b) einen ebensolchen Denkzettel für das politische Establishment und
c) die Einsicht und Rückbesinnung darauf, dass wir nicht nur in einer repräsentativen, sondern vor allem auch in einer partizipativen Demokratie leben.
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*) Die Geschichte des vote blanc geht auf die Zeit nach der Französischen Revolution zurück. Seitdem späten 18. Jahrhundert besteht in Frankreich die Möglichkeit des Weißwählens. Im Jahr 1807 beschloss der Conseil d'État, der französische Staatsrat, die votes blancs aus der Stimmzählung auszuschließen. Seit 2014 werden sie jedoch nicht mehr zu den ungültigen Stimmen, sondern separat gezählt. Allerdings haben sie noch immer keinen Einfluss auf die prozentuale Stimmenverteilung auf die Kandidatinnen.
Weiß zu wählen bedeutet, entweder einen leeren Stimmzettel oder ein weißes Blatt in den Umschlag zu legen – anders als ungültige Stimmzettel, die beispielsweise zerrissen oder bekritzelt sein können. Ein vote blanc hat jedoch traditionell eine andere symbolische Kraft als eine ungültige Stimme: Wer in Frankreich weiß wählt, bringt damit bewusst zum Ausdruck, mit dem politischen Angebot nicht einverstanden zu sein. Mit politischem Desinteresse hat das voter blanc nichts zu tun. Bei der Stichwahl der Präsidentschaftswahlen 2017 entschieden sich fast neun Prozent aller Wahlberechtigten dafür, einen leeren Stimmzettel abzugeben, ein bisheriger Rekordwert. Nur drei Prozent wählten ungültig. (https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-04/frankreich-stichwahl-praesidentschaftswahl-linke-voter-blanc)
Übersetzt aus dem Französischen
In den letzten zehn Jahren haben wir bei Wahlkonsultationen einen erheblichen Anstieg der Blankostimmen beobachtet, wie das Referendum vom 24. September 2000 zeigt. Blankostimmen sind jedoch nach wie vor ein wenig untersuchtes Wahlverhalten. Als unausgesprochene Abstimmung betrachtet, wurde sie ebenso wie die Stimmenthaltung lange Zeit einem Fehler des Wählers oder sogar einem Zeichen der Gleichgültigkeit gegenüber der Politik gleichgesetzt. Die politische Analyse der Blankostimme zeigt, dass sie im Gegenteil Ausdruck der Unzufriedenheit mit einem zu eingeschränkten politischen Angebot darstellt. Die ideologische Analyse bestätigt den ausdrucksstarken Charakter dieser Abstimmung. „Weiße Wähler“ haben ein besonderes Interesse an Politik, haben Forderungen zu diesem Thema und zeigen durch ihre Stimme eine Enttäuschung über die Politik, sei sie momentan oder strukturell. Indem sie leer stimmen, wollen sie eine Botschaft senden und auf Veränderung hoffen. Diese Wähler weisen auch soziologische Merkmale auf, die sich von denen der Nichtwähler unterscheiden: Sie sind nicht so jung, sozial besser integriert, gebildeter und politisierter. Die Blankostimme ersetzt nur in einem Fall die Enthaltung: In ländlichen Gebieten drängen die Last der gegenseitigen Bekanntschaften und der sozialen Kontrolle die Wähler dazu, leer zu stimmen, statt sich der Stimme zu enthalten. Die Blanko-Stimme umfasst daher zwei Arten von Verhalten: die traditionelle, ländliche Blanko-Stimme, gleichbedeutend mit versteckter Stimmenthaltung, und die neuere, eher urbane Blanko-Stimme, eine politische Äußerung. In den letzten zehn Jahren kam es bei Wahlen zu einem erheblichen Anstieg der leeren Stimmen, wie das [französische] Referendum vom 24. September 2000 zeigte. Blankostimmen als Wahlverhalten sind nur unzureichend untersucht. Als „unausgesprochen“ angesehene Blankostimmen galten lange Zeit als Wahlfehler oder sogar als Zeichen von Gleichgültigkeit gegenüber der Politik, ähnlich wie Stimmenthaltungen. Die politische Analyse leerer Stimmzettel zeigt, dass sie im Gegenteil Ausdruck der Unzufriedenheit mit einem begrenzten politischen Angebot sind. Die ideologische Analyse bestätigt ihren Ausdruckscharakter. „Leerwähler“ sind politisch interessiert und sehr anspruchsvoll; Sie zeigen durch ihre Stimmen entweder eine konkrete oder eine strukturelle Enttäuschung gegenüber der Politik. Mit der Abgabe leerer Stimmen wollen sie eine Botschaft senden und hoffen auf Veränderung. Diese Wähler weisen andere soziologische Merkmale auf als Abstinenzler: Sie sind nicht so jung, besser in das soziale Gefüge integriert, haben höhere Abschlüsse und sind stärker politisiert. Nur in einem Fall kann eine leere Abstimmung eine Enthaltung ersetzen: In ländlichen Gebieten führt das Gewicht des gegenseitigen Wissens und der sozialen Kontrolle dazu, dass die Wähler eher „leer“ stimmen als sich zu enthalten. Die leere Stimmabgabe entspricht somit zwei Verhaltensweisen: der traditionellen und ländlichen Blankostimme, die eine versteckte Enthaltung widerspiegelt, und der neueren leeren Stimmabgabe, die urbaner ist und einen politischen Ausdruck darstellt. (https://www.jstor.org/stable/43119805)