"Schwarmintelligenz und Schwarmwissen" bei Menschen gibt es nicht
Eine lebendige Gruppe ist auf das Eigene, das Unverwechselbare ihrer Mitglieder angewiesen, das immer wieder zur Überschreitung drängt, immer Reibung erzeugt im Gefüge sozialer Normen.
Liebe Leser/innen,
immer wieder einmal taucht der Begriff der "Schwarmintelligenz" in den Medien auf. Es gibt sogar eine politische Partei in Deutschland, welche diese zu einer der entscheidenden Säulen ihrer Politikausrichtung gemacht hat. Dazu weiter unten. Nun taucht das Wort in abgewandelter Form (womöglich um nicht in einen Topf mit jener Partei geworfen zu werfen) auf: Schwarmwissen. Gemeint ist das Zusammenkommen von Bürgern, um ein weiteres Vorgehen in einer bestimmten Sache festzulegen, respektive der Politik vorzuschlagen. So in dem Teilort von Ravensburg, wo es um die Zukunft eines ehemaligen Schulgebäudes geht. Ich finde es gut, dass hier jede Bürgerin und jeder Bürger mit einbezogen wird. Jedoch haben der Vorgang und das Ergebnis nichts mit Schwarmintelligenz oder Schwarmwissen zu tun. Und es ist auch nichts Besonderes, das hervorzuheben wäre, sondern das ist selbstverständliche Demokratie - wie sie eigentlich immer praktiziert werden sollte!!
Der Psychologe Serge Moscovici führte einst ein Experiment durch und zeigte dabei einer Gruppe von Proband/innen in einem abgedunkelten Raum farbige Dias. Alle Dias zeigten Flächen von verschiedenen Blautönen:
- hellblau
- dunkelblau
- aquamarinblau
- kobaltblau
- leuchtendblau
- preußischblau
- azurblau
Anschließend ließ der Wissenschaftler die Versuchsteilnehmer die Farbe benennen, die das jeweilige Dia zeigte. Eigentlich keine allzu schwere Aufgabe, wie man/ meinen könnte.
Was die Menschen i Raum aber nicht wussten war die Tatsache, dass es unter ihnen zwei eingeweihte "Querulanten" gab, die vehement und hartnäckig behaupteten, dass das ein oder andere Dia sei nicht blau, sondern grün gewesen.
Ob man/frau es glauben möchte oder auch nicht: Die glaubhaft rüberkommenden Behauptungen hatten Einfluss auf die Gesamtmeinung der Gruppe. Denn prompt stieg die Zahl derjenigen, die meinten, dass das von den "Querulanten" erwähnte Dia sei tatsächlich grün gewesen sei - mit signifikanten Ergebnis
- 8,4 Prozent aller Antworten lauteten „Grün“.
- 32 Prozent der Versuchspersonen gaben zumindest einmal an, ein grünes Dia gesehen zu haben (was aber nachweislich falsch war).
Und das, obwohl vor dem Experiment extra die farbliche Sehfähigkeit aller Teilnehmer geprüft und als völlig normal attestiert wurde. Zudem war es eindeutig, dass es sich bei dem jeweiligen Bild um eine blaue Fläche handelte.
Zu bemerken sei, dass es sich bei den eingeweihten Personen um wissenschaftliche Mitarbeiter handelte, die auf die anderen Teilnehmer einen vergleichsweise souveränen und kompetenten Eindruck machten. Man/frau könnte auch sagen, sie besaßen so etwas wie natürliche Autorität und noch besser: sie traten glaubhaft wie Alphatiere auf.
Deshalb wurde das Experiment wiederholt – nur diesmal trug einer der "Querulanten" einen Glasbaustein dicke Brille und verhielt sich auch sonst eher sonderbar und unsicher. Und was soll ich sagen: prompt schrumpfte der "verquaste" Einfluss auf die Gruppe, wenn er denn überhaupt noch messbar war. Nichts mit "signifikant" oder Alphatier.
Mit diesen Experimenten hatte Serge Moscovici hat den sogenannten Minoritätseffekt = die Macht der Minderheit entdeckt und im weiteren Verlauf genauer untersucht. Der sogenannte Minoritätseffekt tritt also nur auf, wenn sich die Minderheit zuvor nicht durch atypisches Verhalten oder durch Zweifel an ihrer Kompetenz disqualifiziert hatte. Sondern selbstbewusst auftrat. In diesem Falle und mit der flankierenden Respekt-Einflößung, kann eine meinungsstarke und laute Minderheit eine zahlenmäßig überlegene Gruppe zumindest stark verunsichern, wenn nicht sogar ihre Urteile so beeinflussen, dass diese der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung widerspricht. (Quelle)
Das im Juli 2021 erschienene Konsensprogramm der Partei "dieBasis", nennt "Freiheit, Machtbegrenzung, Achtsamkeit und Schwarmintelligenz“ als die vier Säulen ihrer Parteiarbeit. Laut der eigenen Website will die Partei eine „neue, menschen- und naturgemäße Gesellschaftsordnung“, Kultur und Wissenschaft von der Wirtschaft entkoppeln und den Menschen als „körperlich-seelisch-geistiges Wesen“ ins Zentrum stellen. Sie steht für die Forderung, der Staat solle sich aus der Erziehung und Gesundheitsfürsorge heraushalten. *) dieBasis vertritt eine sehr skeptische Haltung gegenüber Impfungen und fordert eine Gleichberechtigung der sogenannten Alternativmedizin und alternativer Medien für eine Meinungsfreiheit, die sie momentan in Deutschland nicht als gegeben sieht. Sie fordert „eine zensurfreie, aus Steuermitteln finanzierte und demokratisch kontrollierte Medienlandschaft, die umfassend informiert.“ Damit wird suggeriert, es gebe in Deutschland eine Medienzensur.
- *) So "nebenbei": Damit greift sie (dieBasis) das im GG verbriefte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit des anderen an. Sie kappen damit nicht nur den zweiten Teil von Artikel 1 (Satz 1), sondern auch den ersten des folgenden Satzes. Für sie lautet dann der Artikel 1 GG wie folgt: "(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (2) Die Freiheit der Person ist unverletzlich." bitte lesen Sie aber das Original. Damit stellt dieBasis das "geltende Recht" der Bundesrepublik Deutschland, siehe Art. 1 (3), ad absurdum.
- Des weiteren müssten gemäß der "Basis-Prämissen" sämtliche Jugendämter abgeschafft, sämtliche Jugendeinrichtungen (aha) geschlossen und das "Kinder- und Jugendhilfegesetz" (KJHG = SGB VIII) als ungültig erklärt werden.
Zum Thema der "Schwarmintelligenz" sei hier das Folgende zu bemerken:
Was bei beispielsweise bei Vogelschwärmen und Ameisen und auch Ampelanlagen funktioniert, funktioniert im Internet und beim Menschen jedoch nur mit Einschränkungen: Das Ganze gelingt nur, wenn unterschiedliche Meinungen gefördert werden und nicht der Konsens. Die Masse ist also nur schlau, wenn alle unabhängig voneinander ihre Einzelmeinungen abgeben. Die Erkenntnis lässt sich ebenso hervorragend auf Teams und Meetings übertragen: Sobald sich die Gruppenmitglieder in ihrer Meinung und ihren Statements zu ähnlich werden (!), stockt der Innovationsprozess der Gruppe. Das/die Ergebnis/se sind Mittelwerte und/oder eben Mittelmaß. Und sobald wenige die Debatte beherrschen, wird die Masse blind und gibt ihre Intelligenz dan der Garderobe der Alphatier ab. Dann könnten wir allerdings auch schon von der Schwarmdummheit. reden.
Einige Wissenschaftler sehen den Vergleich von Menschen und Tieren ohnehin kritisch, da Menschen sich nicht exakt wie Schwärme verhielten. Dementsprechend lehnen sie die Begriffe Schwarmintelligenz/Schwarmwissen beim Menschen ebenso ab. Vielmehr handele es sich häufig eher um einen Herdentrieb.
Und der hat nicht immer gute – im Sinne von intelligente – Auswirkungen. Etwa, wenn man/frau auf den Aktienmarkt oder die Mode blickt. Deutlich gravierender sind andere beeinflusste Entscheidungen, vor allem wenn es um die Politik geht. Wir "sehen" es gerade konkret und aktuell in Sachen Russland/Ukraine.
ICH und WIR
Gefunden auf >>> BAYERN 2 <<<
Ich oder wir? Eine Alternative, die sich in Reinform nicht stellt. Denn Ich ist auch Wir. Das Individuum ist ein soziales Phänomen. Es findet seine Identität in Gruppen, zuallererst in der Herkunftsfamilie. In Gruppen übt der Mensch soziale Verhaltensweisen ein, positive und negative. Gruppen prägen seine Art zu denken und zu fühlen.
Obwohl jeder Mensch andere Menschen dringend braucht, wollen die meisten hin und wieder auch mal für sich sein. Wer einsam ist, kann ungestört entspannen, schöpferischen Impulsen nachgehen, sich frei fühlen von Reglementierungen und Anpassungszwängen. Gemeinschaft schränkt ein, setzt Grenzen. Dichter und Denker, wie zum Beispiel der Philosoph Arthur Schopenhauer, stehen ihr oft skeptisch gegenüber: „Zwang ist der unzertrennliche Gefährte jeder Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die um so schwerer fallen, je bedeutender die eigene Individualität ist.“ Für die Mystiker ist Einsamkeit sogar ein Gnadenstand, Voraussetzung für das Einfließen Gottes in die Seele.
Trotzdem: Ist die Einsamkeit nicht frei gewählt, nimmt sie überhand, erkrankt der Mensch. Er hat ein angeborenes Bedürfnis nach Bindung, nach Zugehörigkeit. Er braucht die anderen als Spiegel, als Vorbild, als Gefährte, als Gegner. Gruppen weisen eine gewisse Homogenität auf, sie haben soziale Normen, und der Einzelne tut viel, um ihnen zu entsprechen. Er leistet sich teure Statussymbole, die er eigentlich nicht braucht. Er passt seine Sprache, sein äußeres Erscheinungsbild den Menschen an, von denen er akzeptiert werden möchte. Er nimmt in Kauf, dass er sich verändern muss, wenn er einer Gemeinschaft angehören will; er akzeptiert, dass ihre Rituale, ihre Ansprüche ein Teil seines Selbst werden.
Gruppen erfordern Anpassung. Schon in der Familie stoßen die Affekte und Triebansprüche des Kindes auf Schranken. Der Mensch wird Mensch durch die Sublimierungsleistungen, die seine Sozialisation ihm abverlangt. Das Individuum, so Alexander Mitscherlich in „Massenpsychologie ohne Ressentiment“, „ist von Anfang an ein sozial vergewaltigtes Wesen“.
Diese Anpassungsleistung wird dem Individuum dadurch erleichtert, dass es Rollenzuweisungen vorfindet und verinnerlicht. Rollen stellen einen Komplex von Verhaltensvorschriften und Erwartungen dar, die sich an alle Individuen in einer bestimmten sozialen Position gleichermaßen richten. Sie sind mehr oder weniger verbindlich, schränken den individuellen Entfaltungsspielraum einerseits ein, vermitteln aber andererseits auch soziale Geborgenheit. Keine Gesellschaft kommt ohne Rollenzuweisungen aus, doch keine Gesellschaft kann verhindern, dass der Einzelne einen Spielraum hat, in dem er seine Freiheit behauptet. Geschlechterrollen ändern sich, die Rolle der Kinder in der Gesellschaft ebenfalls, selbst die Rolle des Chefs oder der Sekretärin in einer Firma. Rollenüberschreitungen bringen Neues in eine Gemeinschaft, sie ermöglichen die Entstehung neuer Formen des Zusammenlebens.
Selbstbehauptung ist anstrengend, denn die Position eines Individuums in seinen konkreten Lebensverhältnissen – Familie, Firma, Freundeskreis – ist nicht statisch, sie will erkämpft und verteidigt werden, man muss sich abgrenzen. Das gehört zum Alltag. Sportereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft oder Großveranstaltungen wie das Oktoberfest sind nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil sie die Banalität des Alltäglichen transzendieren. Sie schaffen neue, übergreifende Gemeinschaftserlebnisse, vermitteln dem Einzelnen neue Formen der Selbsterfahrung. Soziale Unterschiede werden nivelliert, soziale Konflikte treten in den Hintergrund. Auch der Nationalrausch ermöglicht den seelischen Ausbruch aus den Beschränkungen konkreter Lebensverhältnisse. Das Hochgefühl, ein „Deutscher“ zu sein, kompensiert den Mangel an Selbstwertgefühl.
Massenerfahrungen ermöglichen die Erfahrung von Gleichheit und großer Nähe und sind daher allgemein beliebt. Sie beseitigen die Abstände und die Berührungsfurcht zwischen Menschen, schreibt der Schriftsteller Elias Canetti in „Masse und Macht“. „Es ist die dichte Masse, die man braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung … Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. In ihrem idealen Fall sind alle gleich. Keine Verschiedenheit zählt, nicht einmal die der Geschlechter. Wer immer einen bedrängt, ist das gleiche wie man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selber spürt.“ Elias Canettis Theorie der Masse kommt ohne moralische Prämissen aus, sie ist beschreibender Natur. Bei Gustave Le Bon, dem Gründervater der Massentheorie, sind – wie bei vielen seiner Nachfolger - deutliche Ressentiments zu spüren. Für ihn sind die Eigenschaften der Massenseele denen der Kinder, der Frauen, der Wilden ähnlich: „Die Einseitigkeit und Überschwenglichkeit der Gefühle der Massen bewahren sie vor Unsicherheit und Zweifel. Den Frauen gleich gehen sie sofort bis zum Äußersten“ („Psychologie der Massen“). Die Herrschaft der Massen ist bei Le Bon ein Verfallssymptom, es bedroht die menschliche Kultur. Dieser kulturpessimistische Ansatz ist bei den frühen Massentheoretikern weit verbreitet, hat aber bei modernen Theoretikern wie Mitscherlich und Canetti eine Relativierung erfahren.
Und dennoch ist das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft immer noch Dauerthema der Kulturkritik. Oft wird dem Individualismus moderner westlicher Gesellschaften die Schuld am Verfall alter traditioneller Werte und Bindungen gegeben. Dem widerspricht Richard Herzinger in der ZEIT (15/1997): „Verantwortungsbewusstsein und zivile Formen im Umgang mit anderen können nur aus der selbstverantwortlichen Ausübung individueller Freiheit entstehen. Erst das Bewusstsein, ein vereinzeltes Individuum mit allen positiven und negativen Anlagen zu sein, macht es überhaupt erst möglich, den anderen in seiner Individualität anzuerkennen und ihn nicht bloß als Repräsentanten eines Kollektivs zu betrachten.“
Weder die Flucht in den Rausch des Kollektiven noch die Glorifizierung der Einsamkeit vermag tragfähige Selbst- und Welterfahrung zu vermitteln: Wer bei der Suche nach sozialer Geborgenheit das Ich geringschätzt und missachtet, wird keine konstruktiven Gemeinschaftserfahrungen machen. Eine lebendige Gruppe ist auf das Eigene, das Unverwechselbare ihrer Mitglieder angewiesen, das immer wieder zur Überschreitung drängt, immer Reibung erzeugt im Gefüge sozialer Normen. Doch wer sein Eigenes zur Geltung bringen will, braucht die Kommunikation mit dem Du, den Austausch mit der Gemeinschaft, die Auseinandersetzung mit Rollenerwartungen. Dieses Wechselspiel kommt nie zur Ruhe und kennt keine endgültige Lösung; es ist ein Grundmerkmal des Lebendigen und des Sozialen.