Aktualisiert: Noch ist Polen nicht verloren - „Jeszcze Polska nie zginęła“.
Ein Felsengebirge der Erleichterung wird auch der 74-jährigen Filmemacherin Agnieszka Holland, die jüdischer Herkunft ist, anlässlich vom Herzen gefallen sein. War sie doch in den letzten Wochen wegen ihres Filmes "Die grüne Grenze" (zu sehen auf der Viennale), der die brutalen Rückstoß -und Abschiebe-Methoden von Flüchtlingen seitens polnischer Grenzschutzpolizisten an der polnisch-belarussischen Grenze thematisiert, Ziel von Hass, Verhetzung und verbaler Gewalt und das Opfer einer Regierungs-gesteuerten Propagandakampagne, die wesentlich mit antisemitischem Treibstoff in Bewegung gehalten wurde. Aber auch vor Vergleichen mit dem Nationalsozialismus schreckten die polnischen Mini-Goebbels nicht zurück, die Holland wegen ihres kommunistischen Vaters als Putin-Handlangerin diffamiert hatten. So twitterte Justizminister Zbigniew Ziobro im September, als der Film den Spezialpreis der Jury beim Filmfestival in Venedig bekam: "Während des Dritten Reichs produzierten die Deutschen Propagandafilme, in denen Polen als Banditen und Mörder dargestellt wurden. Heute haben sie dafür Agnieszka Holland."
Kenner der polnischen Politszene vermuten sogar, dass die Hasstiraden gegen die Filmemacherin, deren Werk "Hitlerjunge Salomon" 1990 für den Oscar nominiert war, verantwortlich sein könnten für die Wahlschlappe der PiS. Was zumindest ein schöner Gedanke ist, dass Kunst die Macht hat, die Verhältnisse umzukehren oder zumindest dabei das Zünglein an der Waage zu sein. (Rundbrief "profil")
https://www.handelsblatt.com/politik/international/wahl-in-polen-polen-entscheiden-sich-fuer-europafreundliche-parteien-machtwechsel-mit-tusk-an-der-spitze-ist-moeglich/29442832.html
Wien. Die 30 Millionen Stimmberechtigten Polinnen und Polen haben am Sonntag mehrheitlich proeuropäische Abgeordnete ins Parlament gewählt. Laut Exit-Polls bleibt die bisher regierende Recht und Gerechtigkeit (PiS) zwar stärkste Partei. Sie büßte im Vergleich zu 2019 jedoch ein. Bestätigt die Auszählung die Resultate aus den Polls, verliert die Partei nach acht Jahren ihre absolute Mandatsmehrheit im Sejm.
Die aus drei Bündnissen bestehende Opposition unter Führung des ehemaligen Regierungschefs Donald Tusk hätte dann eine absolute Mehrheit erreicht. Tusks Bürgerkoalition (KO) schnitt mit 31 Prozent der Stimmen besser ab als in den Umfragen prognostiziert.
Außer für Ungarn ist das voraussichtliche Wahlresultat für Polens wichtigste europäische Verbündete in doppelter Hinsicht eine gute Nachricht: Kiew kann sich freuen, dass die anti‧ukrainischen Positionen der Konfederacja, die auch die PiS aus wahlkampftaktischen Gründen punktuell aufnahm, keinen Widerhall fanden.
Sollte die Oppositionsallianz an die Macht kommen, wird dies auch in Berlin und Brüssel äußerst positiv aufgenommen werden. Die PiS stritt sich in der Frage der Rechtsstaatlichkeit erbittert mit der EU. Wer ihre Rhetorik zum Nennwert nahm, konnte den Eindruck gewinnen, Deutschland stelle eine gleich große Bedrohung dar wie Russland.
PiS gibt sich noch nicht geschlagen
Trotz des sich abzeichnenden Machtverlusts sprach der starke Mann der PiS, Jaroslaw Kaczynski, vor fähnchenschwingenden Anhängern von einem Sieg. Der Weg zu einer dritten Regierungszeit sei weiterhin offen. „Das ist noch nicht das Ende“, rief der 74-Jährige seinen Anhängern zu.
Der PiS fehlen jedoch die Partner. PiS-Strategen sagten inoffiziell, man werde versuchen, einzelne Abgeordnete der Opposition abzuwerben, und so auf eine Mehrheit kommen. Dies funktioniert aber nur bei einem knappen Ergebnis.
Dabei geht es um Dutzende von Milliarden, die Polen dringend braucht: Das Land hat über eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen und die Armee als Antwort auf den Krieg im Nachbarland stark ausgebaut. Das von der PiS ausgelöste rechtsstaatliche Chaos kann aber auch die Opposition nicht leicht ordnen.
Eine Chance, an die Macht zu kommen, haben Bürgerkoalition, Dritter Weg und Lewica nur dann, wenn sie sich nicht auseinanderdividieren lassen. Die PiS wird genau das in den nächsten Wochen versuchen. Erschwert wird die Aufgabe dadurch, dass die Parteiführer Positionen unter einen Hut bringen müssen, die vom moderat konservativen Zentrum bis weit nach links reichen.
Die Strategie ist eine Antwort auf die Dominanz der PiS, die einen Machtwechsel erheblich erschwert. Die Regierungspartei hat den öffentlichen Rundfunk zum Propagandainstrument umfunktioniert. Der staatlich kontrollierte Erdölkonzern Orlen kaufte die größte Gruppe von Regionalzeitungen und brachte diese auf Regierungslinie. Oppositionsnahe Medien wurden ökonomisch ausgehungert. Dennoch blieb die Landschaft deutlich vielfältiger als etwa in Ungarn: Nicht zuletzt dank ihrer ausländischen Besitzer konnten zwei große Fernsehkanäle überleben und ein Gegengewicht bilden.
Sie trugen dazu bei, dass die Polen an den Urnen das politische Zentrum stärkten. So verlor auch das oppositionelle Linksbündnis Lewica Stimmen, während die Parteienallianz Dritter Weg mit 13,5 Prozent zu den großen Gewinnern gehört. Darin haben sich zentristische, moderat katholische und bäuerliche Kräfte vereint.
Osten des Landes wählt PiS
Da auch Tusks KO Anstrengungen unternahm, Wähler außerhalb der Metropolen anzusprechen, ist der Stadt-Land-Graben dieses Mal deutlich weniger ausgeprägt als bei früheren Urnengängen. Allerdings gewann die PiS in sämtlichen östlichen Regionen, die Opposition im Westen. Dies spiegelt die nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommene Verschiebung des Staatsgebiets, zu denen seither auch ehemals deutsch geprägte Gegenden gehören.
Entscheidend für den Wahlausgang dürfte die hohe Mobilisierung gewesen sein. Die Opposition brachte ihre Leute an die Urnen, indem sie eine Richtungswahl zwischen dem Weg in die Diktatur und der Rückkehr zur Demokratie ausrief. Sie sprach auch Frauen stark an. Die konservative Gesellschaftspolitik und vor allem das 2021 eingeführte Abtreibungsverbot hat viele Polinnen verängstigt und wütend gemacht.
Die PiS versuchte ihrerseits, die Kernwähler und -wählerinnen an die Urnen zu bringen, indem sie nicht nur die beiden Parlamentskammern neu bestellen, sondern auch über vier Vorlagen abstimmen ließ. Darin stellte die Regierung nach ungarischem Vorbild vier tendenziös formulierte Fragen über ausländische Investoren, das Rentenalter und zum Schutz der Grenzen.
Die Mobilisierungsstrategie der Regierungsgegner ging besser auf: Laut dem Exit-Poll lag die Stimmbeteiligung bei 73 Prozent. Dies wäre ein absoluter Rekordwert, der den bisherigen von 1989 um mehr als zehn Prozentpunkte überträfe. An den „Volksbefragungen“ beteiligten sich hingegen nur 40 Prozent, womit sie ungültig sind. Die Wählerinnen und Wähler der Opposition boykottierten sie offenkundig größtenteils.
Präsident Duda muss das Parlament innerhalb eines Monats einberufen. Danach hat zunächst die stärkste Partei, also die PiS, 28 Tage, um eine Mehrheit zu finden.